INSERT FEMALE ARTIST meets BÄM!-Newsletter September 2019

  • Allgemein

  • Unsere Freund*innen von AND SHE WAS LIKE: BÄM! haben uns eingeladen, das Editorial für ihren September-Newsletter zu schreiben. Falls ihr nicht bereits zu ihren Abonnent*innen gehört, könnt ihr es hier noch einmal nachlesen:

    »… the exceptional portrait, is the one of the woman who doesn’t appear to want our gaze or need it or even to know we’re there. (…) The woman with other things on her mind. Who has, precisely, mind!«
    (Aus: Zadie Smith: »Alte Frau by Balthasar Denner«, in: Feel Free. Essays, 2018, S. 178.)

    Liebe BÄM!-Freund*innen,

    Fusion, LitCologne, Ruhrtriennale – Festivals sind populär, kein Monat vergeht ohne Festivals – braucht es da noch eins, dann noch ein feministisches, dann noch ein Literaturfestival? Festivals unterhalten, schaffen einen kollektiven Erlebnisraum, bringen Menschen zusammen, können aber auch in einem lockeren Rahmen Bildungsarbeit leisten, Utopien antesten, einen Gesprächsraum eröffnen, der über den Abbruch der Zelte hinaus anhält.

    Vor einem Jahr, der Festivalsommer war fast vorbei, der Abend hatte gerade angefangen, stießen wir an und sagten: Ja, es braucht noch ein Festival und ja, ein feministisches, und ja: ein Literaturfestival! Eins mit Programm und Agenda, eins, das nicht nur vorlesen lässt, sondern erforscht, in den Dialog mit benachbarten Künsten tritt und so den male gaze des Literaturbetriebs und anderer Künste angreift. Und weil nicht nur Nazis rassistisch sind und nicht nur Alte Weiße Männer™ sexistisch, weil diese Strukturen unsere Gesellschaft als Ganzes durchziehen, wollen wir die bestehende männlich dominierte (literarische) Kultur in Bezug auf ihre gesamtgesellschaftliche Präsenz befragen.

    Ja, wir müssen Frauen zählen und so sichtbar machen, wie ungleich der Literaturbetrieb noch aufgestellt ist. Ja, wir müssen uns fragen, wie viele Bücher von Autorinnen wir lesen, welche kanonisiert werden und wieso die meisten Leser*innen eben doch noch ein white male bookshelf im Wohnzimmer stehen haben. Ja, wir müssen den male gaze der Literaturkritik sichtbar machen und durch feministische Aktionen, wie gerade unter dem Hashtag #dichterdran geschehen, entautomatisieren. Ja, wir müssen bewusst an einem weiblichen Kanon arbeiten; den Professor, den Kumpel, den Partner fragen, warum er nur männliche Autoren empfiehlt und warum überwiegend Texte von Männern auf den Lektürelisten in Schule und Studium stehen.

    Warum? Mal ein Beispiel aus der Literaturkritik:

    »Bei einer so frühreif klingenden, jungen Autorin teilt sich das Publikum in Lager: Die eine Hälfte steht applaudierend da, die andere wünscht sich, wie bei den Kinderstars der Vergangenheit (Shirley Temple, Bonnie Langford, et al), sie würde endlich aufhören und die Klappe halten. White Teeth ist das literarische Äquivalent einer hyperaktiven, rothaarigen, steppenden 10jährigen.« Zu diesem Urteil über Zähne Zeigen, den Debütroman der bis dahin unbekannten, 24-jährigen Zadie Smith kam nicht etwa die Literaturkritik, sondern die Autorin selbst. Und das, obwohl über Zähne Zeigen bereits viel geschrieben worden war. Der britische Harvard-Professor James Wood nannte ihren Stil sehr exponiert »hysterischen Realismus«. Diese Kategorie ist erst auf den zweiten Blick misogyn: Wood fasste darunter auch Texte von Autoren wie Salman Rushdie, Thomas Pynchon, Don DeLillo und David Foster Wallace. Wie problematisch die Zuschreibung »hysterisch« ist, weiß man, wenn man den ursprünglichen Bedeutungskontext der Hysterie kennt: ›Hysterie‹ bezeichnete ursprünglich eine durch Männer diagnostizierte und nur bei Frauen auftretende, psychische Störung, die angeblich durch die Wanderung der Gebärmutter ins Gehirn ausgelöst wird. Im 19. Jahrhundert wurde das Konzept durch (pseudo-)wissenschaftliche Ansätze aktualisiert und pathologisierte dann auch selbstbestimmtes, weibliches (Sexual-)Verhalten. Und so verwendet Wood, um deutlich zu machen, dass ihm in diesem Schreibstil etwas ›zu viel‹ ist – es werden zu viele Haupt- und Nebenhandlungen, zu viele Spuren und Verweise angelegt – eine sexistische Form der Kritik, die bereits in der Antike Frauen abwertete, die sich nicht der durch den Mann zugeschriebenen Rolle entsprechend verhielten und zu viel Raum einnahmen.

    Warum Zadie Smith über ihren eigenen Roman so hart urteilt, können wir nur mutmaßen. Vielleicht hat es etwas mit dem ungnädigen Blick auf sich selbst zu tun, den Elisabeth Raether in Neue Deutsche Mädchen beschreibt; ein Blick, der so individuell verschuldet wirkt und sich doch systematisch und ständig zeigt. Raether beobachtet, »dass Frauen sich offenbar auch dann ihrer Sache nicht sicher sind, wenn sie damit Erfolg haben. Dass es offenbar für viele Frauen dazugehört, immer und überall, selbst in der Öffentlichkeit, ihre Schwächen und Makel zu thematisieren« (138). Kennt man ja selbst: Omnipräsentes Hochstaplersyndrom, das wohl eher HochstaplerINNENsyndrom heißen könnte, denn vor allem (erfolgreiche) Frauen leiden unter dem Gefühl der Unzulänglichkeit und unterschätzen ihre Leistungen. Mit welcher Erwartungshaltung tritt man also an sein eigenes Schaffen? Welche kritische Reflexion ist wichtig, ab wann machen wir uns kleiner als wir sind? Und wen lasse ich über meine Leistungen urteilen? Denn die eigene Wahrnehmung als Frau ist weiterhin eine androzentrisch-vergiftete, eine vom Mann aus gedachte, wie Zadie Smith in Bezug auf die Darstellung von Frauen im Louvre feststellt: »In room after room at the Louvre we will find painted women receptive to our gaze, applying for it, offering themselves up for judgement.«

    Zadie Smiths Debüt jedenfalls hat sich über 842.000 Mal verkauft, wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, verfilmt und vom TIME Magazine als einer der wichtigsten 100 englischsprachigen Romanen (1923–2005) kanonisiert.

    Und auch wenn wir mal im Feuilleton nicht über den aktuellen literarischen Shooting Star, Sally Rooney, als »aufgeschrecktes Reh mit sinnlichen Lippen« (Martin Ebel für den Tages-Anzeiger) lesen, müssen wir uns fragen, wie wir die Literaturwelt nach #metoo in Produktion, Rezension und Rezeption umgestalten und verändern können. Die Plattform Goodreads fand durch eine Umfrage heraus, dass die Leserschaft von Autorinnen zu 80% aus Frauen besteht, die von Autoren zu 50%. Ein ausschlaggebender Faktor wird dabei weniger sein, dass Frauen ›weibliche‹ Literatur schreiben und Autoren Themen verhandeln, die alle betreffen, sondern dass Verlage und Medien genderspezifische Rahmungen vornehmen, die auch die individuelle Geschmacksbildung, das Leseverhalten und die Wahrnehmung beeinflussen. Würde die literarische Öffentlichkeit das Buch einer Frau über die Herausforderungen von Ehe und Elternschaft als »Sperrfeuer an gedanklichen Anregungen« framen, oder geht das nur in Verbindung mit der Autorschaftsautorität eines Karl Ove Knausgård?

    Die Autorin und Wissenschaftlerin Siri Hustvedt bemerkt, dass über unbewusste Vorurteile nun ständig geschrieben wird, die wichtige Frage aber nicht sei, ob es sie gibt, sondern wie sie in uns wirken. Dabei ist Lesen eine von vielen kulturellen Praktiken, die uns aufzeigt, welche gesellschaftlichen Vorstellungen wir von Weiblichkeit und Männlichkeit haben.

    Wenn der Literaturprofessor Moritz Baßler also etwas ratlos fragt, ob das Debüt von Karen Köhler denn überhaupt Literatur sei (»und so sieht’s ja wohl aus«), dann ist das vielleicht auch ein Symptom einer Gesellschaft, die kaum Bücher von Frauen liest und bei den wenigen, die an die Oberfläche dringen, plötzlich den Literaturbegriff erneuern muss. (Autor-Autorin-Quoten der Herbsterscheinungen 2019: Rowohlt-Hardcover: 12:1; Suhrkamp: 26:15, C.H.Beck-Sachbücher: 15:3.)

    Über alle diese Dinge wollen wir reden: An drei Tagen beschäftigen wir uns in der Alten Feuerwache Köln mit Selbst- und Fremderzählungen von Autorinnen, stellen kritische Fragen nach Kanonisierungsprozessen in den Kunstwissenschaften und in der Gegenwartsliteratur, untersuchen kritisch alternative Schreibpraktiken in Form von politischen Anthologien, fragen, ob Autoren die Geschichten von Frauen* erzählen sollen und dürfen. Im Austausch mit benachbarten Künsten – Film, Performance, Soundinstallation und Tanz – fragen wir künstlerisch-forschend nach kreative Bewältigungsformen. Dabei ist es uns ein Anliegen, bewusst Räume zum Austausch und Kennenlernen zwischen den eingeladenen Akteur*innen und dem Publikum zu schaffen, zum Vernetzen und Kooperieren – wie etwa bei unserem Banden-Brunch.

    Wir hoffen darum, viele von Euch Ende September zu treffen.
    Ihr findet uns vom 27.–29. September 2019 im Bürgerzentrum der Alten Feuerwache in Köln
    und bis dahin im Internet.

    Svenja Reiner & Sonja Lewandowski
    Künstlerische Leitung des Literaturfestivals INSERT FEMALE ARTIST

     

    Bild: © Sarah von der Heide